Blog #39a, Marlene (Februar 2025, Patagonien Teil I)
Das Leben ist wie ein Theaterstück, ohne Proben. Also singt, weint, tanzt, lacht und lebt.
Bevor sich der Vorhang schliesst und das Stück ohne Applaus zu Ende geht.
Autor: Charlie Chaplin
Am südlichsten Zipfel Südamerikas beginnt ein Land der Extreme: Patagonien und Feuerland – Namen, die nach Abenteuer klingen. Zwischen windgepeitschten Ebenen, türkisblauen Gletschern und zerklüfteten Fjorden spannt sich eine der letzten grossen Wildnisse der Erde. Hier leben mehr Guanacos als Menschen, und das Wetter kann vier Jahreszeiten an einem Tag zeigen.
Patagonien umfasst rund eine Million Quadratkilometer – mehr als doppelt so viel wie Deutschland – bei gerade einmal etwa zwei Millionen Einwohnern. Feuerland, die Inselgruppe ganz im Süden, ist kaum besiedelt. Ushuaia, die Hauptstadt der argentinischen Provinz, gilt als südlichste Stadt der Welt.
Ein überraschender Fakt: Ushuaia liegt etwa soweit südlich wie Norddeutschland nördlich. Doch weil auf der Südhalbkugel viel weniger Landmasse vorhanden ist, herrscht ein deutlich raueres, maritimes Klima mit starken Winden und raschen Wetterwechseln.
Wer hierher reist, sucht nicht nur unberührte Landschaften, sondern auch Begegnungen mit einer einzigartigen Tierwelt: Guanacos, Nandus und Gürteltiere streifen durch die weiten Ebenen. In den Anden leben Pumas und Andenkondore, an den Küsten tummeln sich Seelöwen, See-Elefanten, Delfine und sogar Walfische wie zB. Orcas. Pinguine – besonders die neugierigen Magellanpinguine – sind vielerorts zu beobachten, manchmal in grosser Zahl.
Patagonien und Feuerland fordern heraus und belohnen uns mit einer Erfahrung, die wir nie vergessen.
Wir starten am 2. Februar um 12:25 Uhr in Sydney und landen nach gut zwölf Stunden Flug am selben Tag um 11:45 Uhr in Santiago de Chile – also 40 Minuten früher, als wir in Australien losgeflogen sind. ?!?
Solche skurrilen Zeitsprünge entstehen, wenn man die Datumsgrenze überquert. Die Stunden, die wir auf unserer Reise Richtung Osten mit jeder Zeitzonenverschiebung verloren haben, bekommen wir nun mit voller Wucht zurück. Unsere Körper wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen – der Jetlag schlägt gnadenlos zu.
Dani schläft gerade neben mir – mitten am sonnigen Nachmittag im Bus, auf dem Weg zu unserem Apartment, das wir Wochen im Voraus reserviert haben. Unsere innere Uhr ist völlig aus dem Takt. Beim heutigen Training hätte ich auch einfach nur die Turnschuhe in den Raum stellen können – so motivationslos habe ich mich bewegt.
Unser Apparment mit eigener Küche und die Überbauung mit Pool, Waschküche und Gym sind praktisch neu und sehr hübsch eingerichtet - ideal um hier auf Touren zu kommen.
Trotzdem raffen wir uns auf und besuchen den Flohmarkt in unserem Quartier. Dort kaufen wir etwas Essbares ein, denn auch hier haben wir wieder ein Apartment mit Küche gemietet.
Wir wohnen im coolen Barrio Brasil – einem farbenfrohen Viertel voller Graffitis, Street Art und quirligen, alternativen Restaurants. Koloniale Architektur aus dem 19. Jahrhundert prägt das Strassenbild. In einem der Cafés erfahren wir, dass sogar der junge Präsident hier wohnen soll.
In den ersten Tagen laufen unsere Motoren nur im Standgas. Wir streifen etwas lustlos durch unser Quartier und arbeiten in unserem hübschen, modernen Apartment. Dani kümmert sich um die Einfuhrpapiere für den Zoll, ich erledige dies und das.
Am vierten Tag überkommt uns ein Energieschub – wir beschliessen, die Innenstadt zu erkunden. Unser Weg führt vorbei am Regierungspalast Palacio de La Moneda, dem Sitz des Präsidenten, und über den Plaza de la Constitución. Eine willkommene, schattige Pause gönnen wir uns in der eindrucksvollen Catedral Metropolitana. Damit haben wir die wichtigsten Wahrzeichen der Stadt gesehen und Appetit bekommen.
In der grossen Markthalle, dem Mercado Central, gibt es zur Begrüssung ungefragt eine kostenlose Fischsuppe als Vorspeise – begleitet von einem Pisco Sour. Dieser erfrischend-fruchtige Cocktail gilt als chilenisches Nationalgetränk und wird an jeder Ecke serviert. Dani kämpft sich anschliessend durch eine verlockend duftende Suppenschüssel mit frischen Meeresfrüchten. Währenddessen wird unser Glas mit Pisco Sour immer wieder nachgefüllt. Huhu! Chile, du gefällst uns 😊.
Etwas beschwingt steigen wir auf den historischen Hügel Cerro Santa Lucía (629 m), um einen Blick auf die schneebedeckten Andengipfel zu erhaschen. Die Aussicht bestätigt: Santiago liegt eingebettet im Tal der Anden.
Wo auch immer wir entlang schlendern, liegt oft ein leichter Uringeruch in der Luft. Die Grünflächen teilen sich schmusende Paare, Familien und Obdachlose. Die Randständigen sind allgegenwärtig – ihr Schicksal geprägt von Armut, Migration, Drogen und fehlender sozialer Absicherung. Im Winter bietet die Stadt Notunterkünfte («Albergues») für rund 20'000 Obdachlose an. Die Hilfsorganisation Hogar de Cristo unterstützt mit Essen. Unsere Münzen spenden wir singenden oder bettelnden älteren Menschen.
Im bekannten Künstlerviertel Barrio Bellavista ist einiges los, Touristen sind jedoch kaum zu sehen. Wer besucht schon Santiago? Die Häuser sind bunt bemalt, Händler bieten Bilder und Schmuck an. Eine leicht bohemische Stimmung liegt in der Luft – am Ende trage ich ein neues «Bändeli» am Handgelenk.
Auf all unseren Kilometern durch die Stadt fällt uns auf, wie viele kleine «Tante-Emma»-Läden es gibt. Sie verkaufen alles Mögliche und scheinen davon leben zu können. Grosse Supermärkte gibt es zwar, aber sie sind längst nicht so dominant wie in Europa.
Unser Unimog trifft am 10. Februar ein. Dani verfolgt die Route täglich mit der App MarineTraffic. Die Maersk Lima bringt (so hoffen wir) unsere wertvolle Fracht nach San Antonio – eine Hafenstadt rund 100 km westlich von Santiago. Für je sieben Franken kaufen wir zwei Flixbus-Tickets und stehen viel zu früh mit unseren Rucksäcken am Busterminal. Der Flixbus-Mitarbeiter informiert mich, dass wir auch den früheren Bus nehmen könnten – dieser fährt allerdings in fünf Minuten ab, und Dani ist gerade irgendwo unterwegs auf der Suche nach einem Espresso mit Croissant.
So sitzen wir eine Stunde später im vorgesehenen Bus und erreichen San Antonio nach gut zwei Stunden Fahrt. Die folgenden Tage verbringen sind voll mit Zollformalitäten und Behördengängen. Wir haben ein Zimmer gebucht – etwa 10 m² gross, ohne Fenster. Dusche und WC befinden sich auf dem Gang. Dafür dürfen wir die Küche und den Kühlschrank mitbenutzen, was für mich besonders wichtig ist. Alles ist sauber und ordentlich. Der überaus freundliche Besitzer gibt uns sogar einen Schlüssel für das Bad, damit wir es exklusiv nutzen können. Wir teilen das Hostel mit zahlreichen Hafenarbeitern, die hier untergebracht sind.
Die Bedingungen sind anspruchsvoll, doch wir nehmen die Herausforderung an – es sind ja ohnehin nur drei Nächte geplant, dann können wir wieder in unserem Heim schlafen. So zumindest der Plan.
Da wir die Reise unserer Fracht während der gesamten 64 Tage mit der App mitverfolgen, können wir gut einschätzen, dass sie pünktlich eintreffen wird. Sie war bereits im Hafen von Singapur, irgendwo in Taiwan, in China, Peru und auf drei verschiedenen Schiffen der Reederei Maersk. Eine solch lange Seereise birgt natürlich ein gewisses Risiko: zahlreiche Umladungen, lange Hafenaufenthalte und wir alle kennen die Bilder von treibenden Containern oder verloren gegangener Fracht.
Heute übergeben wir der Spedition unsere Schlüssel – nun bleibt uns nichts anderes übrig, als die nächsten zwei Tage Däumchen zu drehen. Beim Nachmittagsrundgang am Pier entdecken wir zu unserer Freude die Maersk Lima, wie sie gerade in den Hafen einläuft. Unsere Blicke scannen neugierig die Fracht des 300 Meter langen Schiffs. Keine blaue Plane in Sicht! Offenbar ist unser Container auf der uns abgewandten Seite verstaut.
Wir setzen uns in ein Café und warten gespannt auf die Entladung. Die riesigen Krane, die auf Schienen hin und her gleiten, werden über der Fracht positioniert – doch dann passiert: nichts. Nach einer Stunde Warterei und einem Liter Tee im Bauch geben wir auf und kehren zurück in unsere fensterlos Höhle.
Am nächsten Morgen lesen wir auf der Maersk Trackingpage, dass unser Container um zwei Uhr nachts entladen wurde und übermorgen zur Abholung bereitsteht. Wir hatten stets ein gutes Gefühl und nun ist die Freude gross, als die Bestätigung kommt: Die Fracht ist im Hafen eingetroffen.
Zur Abwechslung besuchen wir die Seelöwenkolonie am Strand. Einer der gewaltigen Kolosse heisst tatsächlich Antonio und wir können ihn aus nächster Nähe bestaunen. In Australien haben wir für solche Begegnungen Hals und Kopf riskiert, hier stehen wir nur wenige Meter entfernt.
San Antonio ist zwar eher unansehnlich, doch trotzdem tummeln sich zahlreiche einheimische Touristen. Die Tipps vom Honigverkäufer Fernando haben wir gespeichert und sein Honig überzeugt uns. Nach ausgiebiger Degustation kaufen wir zwei Kilo Ulmenhonig. Dani liebt ihn im Tee, im Müesli und auf dem Brot.
Die nötigen Dokumente sind bereit, und wir nutzen den freien Tag, um die Büros ausfindig zu machen, die wir morgen abklappern müssen. Überall werden wir herzlich empfangen, und zu unserer grossen Erleichterung sprechen die «Jefes» alle ein wenig Englisch. Das dürfte den Ablauf morgen deutlich erleichtern. Überraschenderweise wird bereits jetzt herumtelefoniert – alle Beteiligten wissen nun, wer wir sind und was wir wo erledigen müssen. Sehr zuvorkommend, die chilenischen Beamten.
Das wichtigste Dokument ist der DRESS (Documento de Revisión de Entrada y Salida de Sistema). Es wird von den Hafenbehörden erstellt und bildet die Grundlage für den Importprozess beim Zoll. Wir erhalten das wertvolle Papier im Büro der Firma Agunsa, gleich beim Busterminal. Victor kennt uns bereits von gestern und überreicht uns das Dokument mit einem breiten Lächeln im Gesicht.
Wir senden es umgehend an unsere Agentur und erfahren, dass die Zollabfertigung 24 Stunden im Voraus angemeldet werden muss. Hätte man ja machen können, wenn man’s vorher gewusst hätte! Die Agentur hat es verschlafen – heute geht also nichts mehr. Wir nehmen es gelassen. Alles andere bringt nichts, ändern können wir ohnehin nichts. Ich vertiefe mich in gute Lektüre, Dani studiert die Zeitung im kleinen Garten der zum Hostel gehört. Abends werden wir vom Besitzer zum Nachtessen eingeladen. Ein geselliger Abend mit gutem Wein, zähem Fleisch und Tanz, was will man mehr.
Am vierten Tag in San Antonio erhalten wir endlich die Nachricht: Wir sollen uns im Zollfreilager der Firma Agunsa einfinden. Nichts wie los – Uber bestellen, den vollgepackten Rucksack schultern und ab ins Lager. Dort werden wir zügig weitergeleitet. Dani darf, ausgerüstet mit Sicherheitskleidung, zum Fahrzeug. Ich nehme derweil am kleinen Teamevent im Büro teil. Die Fotos, die Dani mir sendet, zeigen unseren Unimog zwischen dutzenden Containern, offenbar unversehrt, unter der blauen Plane. Auf dem nächsten Bild steht er intakt auf dem Flat Rack – Erleichterung!
Das Auspacken, das Montieren der Batterie und das Herunterfahren vom Flat Rack über Rampen zieht sich hin. Nach rund zwei Stunden steuert Dani den Unimog zum Inspektionsplatz auf dem Gelände. Eine weitere Stunde verstreicht, bis das temporäre Importpapier ausgestellt ist – der Startschuss für die Zollinspektion.
Vier Beamte erscheinen zur Kontrolle, drei Menschen und ein Hund, der von einem rundlichen, älteren Zollbeamten mit grimmigem Gesichtsausdruck getragen und ins Fahrzeug gehievt wird. Alles wirkt sehr ernst – als wollten sie uns sagen: «Wir nehmen unsere Arbeit genau.» Wir, zwei ältere Weltreisende aus der Schweiz, gerade aus Malaysia eingetroffen, scheinen zur Hochrisikogruppe zu gehören.
Als Dani ebenfalls versucht, sich in die Wohnkabine zu zwängen, steht der Hund auf dem Esstisch. Der grimmige Beamte hebt ihn hoch, drückt ihn an die Decke und setzt ihn wieder auf den Tisch. Dani weist freundlich darauf hin, dass es sich hier nicht um einen Container, sondern um unser Zuhause handelt.
Draussen wird der Hund mehrfach ums Fahrzeug geführt, damit er seine feine Nase überall hineinstecken kann. Nach etwa 30 Minuten zieht die Special Investigation Force – oder treffender: Fuerza de Investigación Especial – etwas enttäuscht von dannen. Später bemerken wir, dass beim Versuch, den Kühlschrank zu öffnen, der Türöffner abgebrochen wurde – ohne dass uns jemand darüber informiert hätte.
Endlich sind alle Dokumente vollständig, die Stempel gesetzt und wir dürfen den Komplex verlassen. Wir sind back on road!
Zurück in der Stadt gehe ich einkaufen, während Dani den abgebrochenen Kühlschrankgriff repariert. Wir verstauen die Einkäufe im wieder funktionierenden Kühlschrank, füllen rasch noch Diesel- und Wassertanks und schon rollen wir los zu unserem ersten Nachtplatz in Freiheit. Südamerika, wir kommen!
Wir entdecken ein idyllisches Plätzchen an einem glasklaren Fluss. Endlich können wir alle Textilien aus dem Fahrzeug räumen, sie an der Sonne trocknen und den teilweise aufgetretenen Schimmel mit Essig behandeln. Nach zehn Wochen ohne Lüftung riecht es in der Wohnkabine ziemlich muffig. An mehreren Stellen hat sich der Schimmel festgesetzt. Mit Lappen und zusätzlich wohlriechendem Reinigungsmittel rücken wir dem Scimmel zu Leibe.
Am Abend wird es spürbar kühl, und wir strecken die Füsse gerne dem knisternden Lagerfeuer entgegen.
Am nächsten Morgen springen wir kurzentschlossen in den erfrischenden Fluss, geniessen ein ausgiebiges «Zmorge» und brechen anschliessend in Richtung Süden auf. Zuerst führt unser Weg über die Ruta 66, wenig später wechseln wir auf die Ruta 5 – den chilenischen Abschnitt der Panamericana. Diese durchzieht das Land von Norden bis Süden und bildet dessen wichtigste Lebensader.
Die Autobahngebühren sind happig – doch für alle gelten die gleichen Regeln. Ich frage mich trotzdem, wie sich die Chilenen das leisten können. Bis Ende Februar dauern die Sportferien, entsprechend ist etwas mehr Verkehr unterwegs. Dennoch lässt es sich entspannt fahren, und mit guter Musik kommen wir zügig voran.
Kurz vor dem Ferienort Villarrica erblicken wir den schneeüberzogenen Vulkan Villarrica. Mit seinen 2847 Metern ist er ein beeindruckender Schichtvulkan. In seinem Krater brodelt ein aktiver Lavasee. Der Villarrica gehört zu den wenigen Vulkanen weltweit, in denen dauerhaft sichtbare Lava zu beobachten ist.
Wir würden ihn liebend gern besteigen, doch das ist nur in Begleitung eines Guides erlaubt, da jederzeit kleinere Ausbrüche möglich sind. Wir denken ernsthaft darüber nach, entscheiden uns aber aus Zeitgründen dagegen. Wir können noch nicht abschätzen wie gut wir vorankommen und wollen auf keinen Fall in Feuerland in den Schnee geraten. Stattdessen lassen wir den Abend entspannt am gleichnamigen See ausklingen.
Am nächsten Morgen stehe ich um acht Uhr im Badeanzug mit Schwimmbrille bestückt draussen auf der Treppe – muss jedoch schnell einsehen, dass es für ein längeres Schwimmen definitiv zu kalt ist. Also rein in die Joggingschuhe und erst danach ein kurzes Bad im See. Beim Losfahren sind wir völlig durchgefroren und müssen die Heizung aufdrehen. Wir sind uns die Kälte nicht mehr gewohnt – aber wir werden uns rasch daran gewöhnen müssen. Je weiter wir nach Süden fahren, desto frischer wird es wohl.
Wir durchqueren traumhafte Landschaften mit zahllosen Seen, die diese Region prägen, und finden nach etwas Suchen einen wunderschönen Stellplatz direkt am Llanquihue-See. Kaum verschwindet die Sonne, zieht es uns schnell in die warme Kabine – warum bloss? Ihr wisst es: Es steht oben. Ich friere sowieso, da ich es mir nie verkneifen kann, nochmals kurz ins kalte Wasser zu tauchen.
Kaum ist der Wecker ausgestellt, sitzen wir schon wieder vorne im Fahrerhaus und rollen über die Strasse in Richtung Süden. Sport machen wir später an einem Fluss und finden zu unserer Überraschung überall Brombeersträucher. Schnell sind zwei Schalen gefüllt. Die Beeren verschwinden zum Frühstück schnell in unseren Mündern.
Wir sind tief beeindruckt von der unberührten Natur, den türkisfarbenen Seen, Gletschern, Steppen, Bergen und den zerklüfteten Fjorden. Diese Region ist geprägt von starkem Wind, plötzlichem Wetterumschwung und kühlen Temperaturen – selbst jetzt im Sommer. Doch die Einheimischen laufen oft in kurzen Hosen und T-Shirts herum. Für sie ist es Sommer und sie sind offenbar eisige Winter gewohnt.
Mitten in unserer langen Patagonien-Reise stehen wir nun vor einer Entscheidung: Wollen wir weiter südlich in Chile reisen und dazu mehrere Fähren nutzen? Oder fahren wir ein Stück zurück und überqueren bei Osorno die Grenze nach Argentinien?
Online können wir keine Fährbuchung vornehmen – unsere Aussenmasse sind im System nicht hinterlegt. Wir versuchen es zuerst bei der Naviera Austral, die die landschaftlich reizvollere Route anbietet. Diese Variante würde drei unterschiedliche Fährverbindungen beinhalten, dazwischen immer wieder Teilstrecken auf der Strasse – landschaftlich sicher ein Highlight. Leider ist diese Option erst in einer Woche verfügbar. So sehr begeistert uns Puerto Montt dann doch nicht. Zwar gibt es grosse lokale Märkte, Einkaufszentren und hübsche, farbenfrohe Häuschen entlang der Strassen – aber dennoch: Danke, aber nein danke.
Die nächste Fährgesellschaft Somarco passt besser zu unserem Plan. In zwei Tagen können wir nachts bis nach Chaitén übersetzen. Die Überfahrt bei Nacht dauert rund acht Stunden, und wir dürfen die Nacht im Fahrzeug verbringen. Klingt nach einem vernünftigen Plan.
Die zwei Tage bis zur Abfahrt verbringen wir in einer Werkstatt. Wir wechseln das Motorenöl und die mitgebrachten Filter. Zudem muss eine Schweissnaht an unserer Eingangstreppe erneuert werden. Wir sind fast den ganzen Tag in der Garage. Dani nutzt die Zeit sinnvoll und schneidet das in Australien gekaufte Mückennetz für den Eingang passgenau zu und näht es ein. Das alte ist schon seit Monaten – wenn nicht Jahren – defekt. Die Notlösung mit einem Schal war zwar hübsch anzusehen, aber alles andere als zuverlässig.
Mücken begleiten uns schon lange auf dieser Reise – sie sind ein ständiges Thema. Mich mögen die kleinen Biester besonders, und umso mehr geniesse ich, dass sie in Patagonien praktisch nicht vorkommen. Der ständige Wind und die Kälte schützen mich. Bis jetzt hatten wir Glück – keine Dengue, kein Zika und keine anderen übertragbaren Krankheiten. Doch in gewissen Regionen Argentiniens und Brasiliens werden Malaria und Gelbfieber wieder vermehrt zum Thema. Ich überlege mir, die Gelbfieberimpfung in Buenos Aires machen zu lassen – für manche Länder ist sie ohnehin Einreisebedingung.
Am Abend, pünktlich um neun, begeben wir uns zum Hafen und warten auf die Einweisung zur Fähre. Knapp zwei Stunden später fahren wir auf die schwimmende Brücke und kaum ist der Motor abgestellt, liegen wir auch schon im Bett.
Bevor wir unsere Fahrt entlang der Carretera Austral (Ruta 7) beginnen – einer der spektakulärsten Strassen Südamerikas –, planen wir einen Abstecher zum Vulkan Chaitén. Ausgeschlafen und pünktlich verlassen wir die Fähre und rollen direkt los in Richtung Vulkangebiet. Wörtlich übersetzt bedeutet Carretera Austral «südliche Strasse». Chaitén, ein kleines, geschichtsträchtiges Städtchen an der Küste dieser Route, wurde 2008 durch den Ausbruch des gleichnamigen Vulkans stark zerstört.
Auf dem menschenleeren Parkplatz wechseln wir rasch die Schuhe, dann geht’s los bergauf. Die Spitze des Vulkans bleibt zunächst verborgen – sie liegt im Nebel, der auch gleich die Sonne mit einpackt.
Nach knapp einer Stunde Aufstieg über schmale Pfade und viele Treppenstufen erreichen wir den Kraterrand und erhaschen nebelfreie Blicke auf den Kratersee. Unser erster Vulkan auf diesem Kontinent ist geschafft. Oben empfängt uns der heftige patagonische Wind – ein Vorgeschmack auf das, was uns in den nächsten Wochen wohl begleiten wird.
Wieder unten angekommen, ist der zuvor leere Parkplatz gut gefüllt. Wir setzen unsere Fahrt fort, zurück auf die Ruta 7. Diese führt über 1240 Kilometer durch den wilden Süden Chiles bis nach Villa O’Higgins.
Wir staunen über dichte Regenwälder, schneebedeckte Andengipfel, türkisfarbene Flüsse, Fjorde, Gletscher und Regenbögen, die wie aus dem Nichts erscheinen. Die Strasse wechselt zwischen Asphalt und Schotter, je weiter wir nach Süden vordringen, desto rauer wird der Belag – für unseren Unimog jedoch ideales Terrain.
Obwohl wir uns auf der geografischen Höhe von Mailand befinden, sind wir umgeben von Schneebergen und Gletschern. Das Klima hier ist so vollkommen anders als in Europa – in keiner Hinsicht vergleichbar.
Wir erreichen Puerto Rio Tranqillo etwas später als geplant – doch diese kleine Verspätung nehmen wir nur zu gerne in Kauf. Unterwegs begegnen wir dem Zwillingsbruder unseres Unimogs – ein Stopp ist da natürlich Pflicht. Wie das ebenso ist, verplaudern wir uns mit Claudia und Stefan, ebenfalls aus der Schweiz. Informationen werden ausgetauscht und locker mal eine gemeinsame Fahrt für Ende Jahr ins Auge gefasst – sie fahren im Moment in die Gegenrichtung in den Norden.
Für den nächsten Tag buchen wir eine Bootstour zu den Capillas de Mármol. Mit unserem eigenen Boot auf die raue See zu gehen, wäre bei dem kräftigen Wind keine gute Idee – die Wellen möchten wir nicht unterschätzen. Zurzeit regnet es ohnehin ununterbrochen, weshalb unsere Stadtbesichtigung eher kurz ausfällt.
Nach einer wenig «tranquillo» verlaufenen Nacht, wir haben neben der lokalen Disco geparkt, stehen wir mit kleinen Augen am Treffpunkt für unseren Ausflug. Dort erhalten wir Pelerinen und Schwimmwesten, bevor wir uns mit zahlreichen weiteren Besuchern zum Steg begeben. Die Fahrt mit dem kleinen Boot ist ruppig und genau das finden wir grossartig.
Jetzt wissen wir auch, weshalb wir den Regenschutz bekommen haben: Die Gischt wäscht uns wach, und der Wind peitscht uns heftig um die Ohren. Wir sind dankbar für die Schwimmwesten – es ist richtig wild da draussen.
In einer geschützten Bucht schaukelt das Boot dann sanft an den eindrucksvollen Marmorfelsen entlang. Die Qualität des Steins ist hier zu gering für den Abbau, deshalb dienen die einzigartigen Formationen einzig der Wissenschaft und dem Tourismus.
Die Capillas de Mármol – die Marmorkapellen – sind faszinierende Natursteinformationen am Ufer des Lago General Carrera. Über Jahrtausende hat das Wasser des Sees den Marmor erodiert und dabei diese kunstvollen Höhlen geschaffen.
Gegen Ende der Tour begegnen wir zahlreichen Kajaks, die ebenfalls zur Marmorkapelle und zum Dom unterwegs sind – sportlich und still. Das hätte uns sicher auch gefallen, aber leider geht nicht alles.
Weiter geht’s Richtung Grenze nach Argentinien. Wir wollen den Grenzübertritt über den Paso Roballos wagen und scheitern. Ein Online-Dokument fehlt uns, das wir zwar vorgängig gelesen, aber erfolglos zu beantragen versucht haben. Nun gut, wir müssen unverrichteter Dinge umkehren und mir platzt innerlich bereits der Kragen. Es stinkt mir, dieselbe Strecke wieder zurückzufahren.
Dani bringt mich mit ruhiger Stimme zur Vernunft: Solche Momente dürften uns nicht aus der Fassung bringen – wir seien schliesslich mitten in einem unglaublichen Abenteuer. Und ja, wo er recht hat, hat er recht.
Der Abstecher war dennoch lohnenswert. Zum ersten Mal begegnen wir hier wilden Guanacos – Verwandte der Lamas, etwas kleiner und mit weniger Wolle und Nandus, den südamerikanischen Sträussen.
Am Abend erreichen wir Chile Chico und überqueren hier ohne jegliche Probleme die Grenze nach Argentinien. Unsere erste Nacht verbringen wir in einem Nationalpark – umgeben von herrlicher Ruhe und angenehmen Temperaturen.
Die wilde Natur wird fast ausnahmslos durch Zäune von der Strasse abgegrenzt. Die cleveren Guanacos springen meist mühelos darüber – denn wie auch bei uns Menschen scheint das Gras auf der anderen Seite immer grüner. Leider verfangen sich einzelne Tiere mit den Läufen im Draht und verenden qualvoll. Kein schöner Anblick.
Ob der Zaun dazu dient, Menschen vom Land fernzuhalten oder Tiere vor der Strasse zu schützen – ich weiss es nicht. Doch bei so wenig Verkehr scheint mir: Ohne Zaun würden wohl weniger Tiere verelenden.
Früh am Morgen weckt uns die Sonne. Wir räkeln uns genüsslich im Bett und freuen uns über den wolkenlosen, stahlblauen Himmel. Endlich kein Regen mehr! Der Wind jedoch bleibt ein treuer Begleiter – wie immer in Patagonien.
Dieses Naturphänomen entsteht durch das Zusammenspiel von Hoch- und Tiefdrucksystemen rund um den Südzipfel Südamerikas. Über dem Südpazifik sammelt sich feuchte, kühle Luft, die durch die Westwinde gegen die Anden gedrückt wird. Beim Überqueren der Berge verliert sie ihre Feuchtigkeit – auf der argentinischen Seite sinkt sie ab, wird dabei wärmer und trockener. So entstehen die starken, fast ständig wehenden Winde, die Patagonien prägen.
Im Osten, also in Argentinien, ist das Wetter tendenziell besser – hier gibt es keine hohen Gebirgszüge mehr, die für Stauniederschläge sorgen. Je weiter westlich, desto rauer wird das Klima.
Gemütlich fahren wir heute in Richtung Lago Posadas, wo wir eigentlich übernachten möchten. Doch der Wind bläst so kräftig, dass nur ich mich – völlig allein, keine Menschenseele weit und breit – kurz nackt in die eisigen Fluten wage. Danach eingehüllt in Schals, geht es weiter.
Ab hier wollten wir eigentlich auf die Ruta 41 abbiegen, eine abenteuerliche Strecke durch die Berge. Diese Route ist allerdings nur bei stabilem Wetter befahrbar – bei Regen wird sie schnell unpassierbar. Rund um uns scheint die Sonne, doch genau über dem Gebirge, das wir queren möchten, hängt eine pechschwarze Wand aus Regen und Wolken.
Offenbar soll es einfach nicht sein, dass wir gefährliche Wege wählen. Dani ist frustriert und enttäuscht, aber gegen das Wetter kommen wir nicht an. Die Natur zeigt sich hier in ihrer eigenen, urwüchsigen Gewalt.
Widerwillig fahren wir also auch heute wieder etliche Kilometer zurück, um auf die Ruta 40 zu gelangen. Hinter einer alten Ruine, geschützt von Büschen und Bäumen, finden wir schliesslich ein fast windstilles Plätzchen.
Hier richten wir uns ein und geniessen unser «Znacht» draussen in der wärmenden Abendsonne. Nach einem Glas Wein strahlt auch Dani wieder und die Welt ist wieder in Ordnung.
Ich starte den Tag mit einer Joggingrunde. Der Wind bläst schon kräftig, und mit ständigem Seitenwind wird es zu einer eher mühsamen Angelegenheit. Da ich die Serpentinen hochrenne, ändert sich die Windrichtung laufend – doch bei Rückenwind fühle ich mich wie ein Duracell-Hase: den Hügel hoch, so schnell wie noch nie.
Nach einer Stunde holt mich Dani mit dem Auto ein und wir tauschen die Plätze. Nun kämpft er sich durch den Wind, während ich unser Grosser durch den Wind fahre.. Unterwegs legen wir eine kurze Pause in einem Bach ein – Katzenwäsche im eiskalten Wasser. Der Wind macht das Ganze nicht angenehmer, aber immerhin sind wir wieder frisch.
Die Fahrt wird zunehmend unheimlich. Der berühmte patagonische Wind erreicht mittlerweile Böen von über 50 Knoten und rüttelt heftig an unserer Kabine. Der Wind klappt die grossen Rückspiegel am Unimog ein. Es ist unmöglich, bei Seitenwind eine Tür zu öffnen – Dani muss das Fahrzeug oft wenden, wenn wir kurz anhalten wollen. Zum Schutz hat er eine «Türsicherung» montiert, die verhindert, dass die Fahrerkabinentüren beim Öffnen aus der Hand und womöglich aus den Scharnieren gerissen werden. Ohne sie wären die Türen wohl auf Reisen getragen vom Wind irgendwohin.
In diesen Sturmböen werden Velofahrer unterwegs von Autofahrern eingesammelt und an sichere Orte gebracht. Motorradfahrer liegen schräg wie in einer Kurve auf der geraden Strasse, um den Seitenwind auszugleichen. Leider werden wir Zeugen eines Unfalls: Ein Motorradfahrer stürzt wegen einer Windböe und zieht sich einen Bruch zu, wie wir vermuten. Unser Angebot ihn ins nächste Spital zu fahren, lehnt er allerdings ab. Wir erfahren, dass die Polizei die Strasse kurze hinter uns abgesperrt hat.
Wir erreichen unser Etappenziel glücklicherweise ohne Schaden und parken den Unimog geschützt hinter einer Häuserwand im kleinen Dorf Gobernador Gregores.
Über Nacht legt sich der Sturm, und wir wachen auf zu stahlblauem Himmel und eisiger Kälte. Warm eingepackt machen wir uns auf den Weg nach El Chaltén.
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